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John Wick: „Schach ist kein Rollenspiel: Die Illusion der Spielbalance“

John Wick said: "Chess and the first four editions of D&D are not roleplaying games" What about Shadowrun? (Image: obskures.de)

John Wick said: „Chess and the first four editions of D&D are not roleplaying games“ What about Shadowrun? (Image: obskures.de)

Chess is not an RPG: The Illusion of Game Balance. In Rollenspiel-Hobbingen herrscht Aufruhr! Der bekannte Designer John Wick (Legend of the 5 Rings, Houses of the Blooded, Wield) spaltet wieder einmal mit einem lesenswerten und provokanten Aufsatz die vereinte Freak Nerd Scene. Seine herausfordernde These lautet grob: „Schach und die ersten vier Editionen von Dungeons & Dragons (D&D) sind keine Rollenspiele.

Vielerorts wird darüber geschrieben und gewettert. Stargazer greift diesen Gedanken auf und führt seine Perspektiven aus. RPGPundit behauptet gar, dass John Wick noch nie (richtig) D&D gespielt hätte.

Seit der Roten Box habe ich ziemlich jede Edition von Dungeons & Dragons gespielt. Erinnert sich noch jemand an John Wicks Play Dirty-Reihe oder seine Aussagen über Diplomacy und Dungeons & Dragons? Denn genau in diese Kerbe schlägt er gegenwärtig erneut. Seine verwegen unterhaltsamen Analogien über Rollenspiel, Riddicks Teetasse oder Sean Connerys Daumen in The Presidio wiederhole ich an dieser Stelle nicht, dennoch trifft sein Artikel in vielerlei Hinsicht den Nagel auf den Kopf.

“ … Chess is not a roleplaying game. Yes, you can turn it into a roleplaying game, but it was not designed to be a roleplaying game …

 

The first four editions of D&D are not roleplaying games. You can successfully play them without roleplaying …“
John Wick(5. Oct. 2014)

Im übertragenen Sinn: Ja, Du kannst Dungeons & Dragons, Pathfinder, Das Schwarze Auge (DSA), Shadowrun, Savage Worlds (etc.) in ein Rollenspiel verwandeln, aber sie wurden nicht entworfen, um ein Rollenspiel sein.

Wie bitte, was? Wieso? Sein Versuch einer Begriffsdefinition veranschaulicht, wo das Problem liegt.

„roleplaying game: a game in which the players are rewarded for making choices
that are consistent with the character’s motivations or further the plot of the story.“
John Wick (5. Oct. 2014)

Im Mittelpunkt eines Rollenspiels stehen also weder die beste Ausrüstungskombination noch der strategisch beste Zug oder der gewürfelte kritische Treffer? Von Spielbalance steht dort ebenfalls nichts. Wozu auch? Sind Batman und Robin gleich stark? Wie sieht es mit Fafhrd und Gray Mouser oder mit Gimli und Gandalf aus? Anders als in Comics, Romanen oder in Filmen folgen wir beim Rollenspielen nicht nur passiv fremden Figuren, sondern wir agieren in vergleichbaren Rollen und fällen Entscheidungen, die diesen erzählerischen Vorbildern nacheifern. Das bedeutet auch, dass diese nicht immer bis ins letzte Detail optimiert sind. Wie war das noch mal mit Achilles und Troja? Was wäre Game of Thrones ohne Ned Starks tragische Fehleinschätzung der Situation am Hof in Kings Landing?

Im Rollenspiel geht es dementsprechend – primär – um das – gemeinsame – Fortschreiben einer spannenden Geschichte und um angemessen aufgeteilte Aufmerksamkeit für alle Mitspieler und – nicht – um spieltechnisch vollkommen ausbalancierte Charaktere. Primetime Adventures verzichtet beispielsweise auf uferlose Ausrüstungs-, Kräfte- und Waffenlisten, die gemeinhin vom Wesentlichen, also dem Geschichtenerzählen, nur ablenken, stattdessen regelt beispielsweise der Spotlight-Mechanismus Screen Presence, welchen Einfluss die Spielfiguren auf die jeweilige Episode ausüben.

Das neue Kampfregelbuch(!) Kreuzfeuer für Shadowrun 5 zelebriert dagegen auf über 200 Seiten (!!) „noch mehr Waffen, mehr Panzerung, mehr Modifikationen und mehr optionale Regeln, darunter Kampfkunstfähigkeiten, Schussmanöver, Taktiken kleiner Einheiten und Sprengstoffe, die dieses Werk höchst explosiv einschläfernd machen.“ Jetzt mal ganz ohne Flachs. In welchem Verhältnis steht der Umfang dieses Machwerks zum Rollenspielmehrwert und Spielspaß? Kein Abenteuer in der Sechsten Welten gewinnt dadurch sonderlich an erzählerischer Atmosphäre oder Tiefe. Also wozu das Ganze? D&D 4 verachtende Chummer sollten mal das Kapitel „Kennt Eure Rolle“ (S. 92 ff) lesen. Anführer: Jemand muss das Sagen haben. Punkt. Ohne Führung bricht die Koordination zusammen, und Leute sterben. Blablabla. Wow, welcome ‚common senseless‘ Braindead! Glücklicherweise gibt es mittlerweile gut spielbare Hacks wie Sixth World, die das nervige Bonus-Klein-klein auf ein erträgliches Maß reduzieren und wieder versuchen, erzählerische Akzente zu setzen. Es geht also …

Natürlich spielt sich die Rote D&D-Box anders als Advanced Descent/D&D 4 und selbstverständlich kann vortrefflich darüber gestritten werden, inwieweit es sinnvoll ist, auf Spielregeln und -werte für soziale Interaktionen zu verzichten, oder nicht. Fest steht jedoch, dass jeder Dialog zwischen den Spielern eine Abenteuergeschichte mehr bereichert als der tollste Würfelwurf. Aber das ist auch nicht John Wicks Punkt. Der Definition folgend bleibt es dabei, dass auch die anderen oben genannten Genrevertreter kaum als Rollenspiel taugen, oder?

Jared Sorenson (InSpectres, octaNe, Lacuna Part I) stellte bereits vor beinahe 10 Jahren The Three Big Questions (1) What is your game about? 2) How does it go about that? 3) What does your game reward/discourage/encourage?). Sollte dabei herauskommen, dass es in einem Spiel vorrangig darum geht, immer stärker zu werden, indem man immer schwierigere Herausforderungen und Monster überwindet und größere Schätze einsammelt, dann ist es –  für mich – kein Rollenspiel, sondern vielleicht Descent oder eben World of Warcraft.

In einem Rollenspiel besteht der Erfolg darin, dass eine Spielgruppe gemeinsam eine zufriedenstellende und tragfähige Geschichte entwickelt und erlebt. Spielregeln für Rollenspiele sollten sich demzufolge mehr mit dieser Herausforderung auseinandersetzen. Sicher jede Erzählung bedient andere Anforderungen, Vorstellungen und Wünsche. Heißt es nicht? One man’s meat is another man’s poison. Dennoch wäre es in diesem Zusammenhang mehr als begrüßenswert, wenn wir diesen Schmarrn wie Richtig- oder Leistungsrollenspieler hinter uns lassen könnten. Vielen Dank!

Gleichzeitig interessiert es mich brennend, ob jemand eine treffendere Rollenspieldefinition kennt? Seit Jahren frage ich mich, wie ungelenke Regelungetüme wie Pathfinder, Das Schwarze Auge, Shadowrun, Savage Worlds (etc.) das Kunststück fertigbringen, individuelle und lebendige „Rollenspielerzählungen“ anzuregen und zu unterstützen, ohne sie dabei mit bleischweren, überflüssigen Ballast zu überfrachten? Es mögen keine Brettspiele sein, aber Rollenspiel fördern sie „definitiv“ auch nicht sonderlich. Sind sie einfach nur schlecht designt, oder handelt es sich um eine andere Spielform?

UPDATE 8. Okt. 2014: Tagschatten, Mad-Kyndlanth und RPGnosis setzen sich ihrerseits kritisch mit dem Thema auseinander. Auch an der empfehlenswerten  G+ Community Rollenspieler (deutschsprachig) ging die Auseinandersetzung nicht vorbei.

Weiterhin frohes (Nicht-)Rollenspielen!

via: RPGPundit

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