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Ersteindruck Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game (BETA Playtest)

Nova Praxis: Cover (Beta)

Nova Praxis: Cover (Beta)

Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game (BETA Playtest), das kommende FATE-Rollenspiel von Mike („Mechalus“) McConnell und Void Star (Strands of FATE) liegt mir als Unterstützer der Kickstarter-Kampagne seit einigen Tagen vor. Der nachfolgende unabhängige Ersteindruck wurde entsprechend weder durch den Verlag noch durch den Autor gesponsert.

Ferner schicke ich voraus, dass ich kein großer Anhänger der Philosophie des Transhumanismus oder des Spielsystems FATE bin.

„Transhumanismus (zusammengesetzt aus lat. trans ‚jenseits, über, hinaus‘ und humanus ‚menschlich‘) ist eine philosophische Denkrichtung, die die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern will. Die Interessen und Werte der Menschheit werden als „Verpflichtung zum Fortschritt“ angesehen.“
Transhumanismus Wikipediaeintrag (de) (abgerufen am 23.12.2012)

Meine größten Science Fiction-Einflüsse sind ganz eindeutig Cyberpunk, also William Gibson, Walter Jon Williams und George Alec Effinger und klassische Zukunftswelten etwa von Joe Haldemann. Die viel gelobten Autoren Neal Stephenson oder Alastair Reynolds überzeugten mich bislang nicht sonderlich. Richard K. Morgan hingegen schreibt sehr spannend. Immer wieder führt er gelungen Motive aus dem Cyberpunk und dem Transhumanismus zusammen.

Nova Praxis: A Crew?

Nova Praxis: A Crew?

Ich unterstützte das Nova Praxis-Projekt aufgrund meiner Enttäuschung über das Rollenspiel Eclipse Phase. Ich halte diese transhumane Spielwelt von Posthuman Studios konzeptionell für wenig gelungen. Insbesondere das klobige Spielsystem stellt für mich einen absoluten Show-Stopper dar. Dagegen gefiel mir seinerzeit Transhuman Space von Steve Jackson Games recht gut, obwohl ich stets eher auf der Oberfläche des detailreichen Hintergrunds blieb.

Vergleichbar mit Eclipse Phase verwüstet auch Nova Praxis die Erde für seine Utopie. Die Menschheit macht sich auf zu den Sternen und besiedelt dabei nicht nur das bekannte Sonnensystem. Hinter dem schönen Schein der überwundenen Beinahe-Apokalypse liegt in meinen Augen allerdings eine ausgewachsene Dystopie. Ein feiner, aber wesentlicher und dunkler Unterschied.

Die ersten Kapitel beschreiben eindringlich den menschlichen Fortschritt trotz aller Widrigkeiten und Katastrophen. Im Jahre 2136 kann der Wille aller Bürger jederzeit und überall genau bemessen werden. Diese vereinten Stimmen leiten die Coalition, die sich über viele Welten und Sonnen ausbreiten konnte. Spezielle auf molekularer Ebene arbeitende Maschinen gewähren allen Bürgern sowohl einen „kostenfreien“ und unerwartet hohen Lebensstandard als auch virtuelle Unsterblichkeit. Klingt zu schön, um wahr zu sein, oder?

Macht, Korruption und Verfall liegen dicht beieinander. Warum soll es in Zukunft anders ein? In Anlehnung an Erich Fromm, kann man wohl davon ausgehen, dass der Mensch weiterhin sehr erfolgreich in der Entwicklung von technischen Apparaturen und Spielzeugen sein wird, aber emotional, geistig und gesellschaftlich bewegen wir uns in unglaublich kleinen Schritten.

Die durch den Einfluss von 6 mächtigen Häusern (i. d. R. Ex-Corporations) geprägte Regierung der Coalition, strahlt vordergründig Einigkeit aus, doch im Hintergrund flackert immer wieder ein kalter Schattenkrieg der Intrigen, Spionage und Mordanschläge auf. Dieses Ränkespiel der Machtzentren um Einfluss und Ressourcen erinnert einerseits an den SF-Klassiker Dune von Frank Herbert und andererseits an einige literarische Vorlagen der Cyberpunks (z. B. die Corporations in Hardwired von Walter Jon Williams).

Sogenannte Apostate, Nicht-Bürger, verachten all jene, die das wertvolle Gut der Privatsphäre für eine „falsche“ Sicherheit aufgeben. Überbleibsel der alten Weltordnung, Regierungen der verlorenen Erde und ideologische Extremisten setzen auf den Schrecken beachtlicher Mordsinstrumente. Der technische Fortschritt kann sowohl zum Wohl aller als auch zur Unterdrückung Andersdenkender gesetzt werden.

„And the value of a human soul is weighed and measured in lines of code.“
Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game (BETA Playtest), page 7

Ausgehend von dem Streben nach Wohlstand, der fragwürdigen persönlichen Freiheit und dem umstrittenen gesellschaftlichen Wert des Individuums ziehen sich verschiedene Konflikte wie ein roter Faden durch den gesamten Spielhintergrund. Solange der Mensch kein Problem für das System, die Coalition und ihre Häuser, darstellt, steht es jedem frei, sein Leben zu genießen. Das Netz (Mesh oder Web) und Compiler ((Nano-)Maschinen, die auf Wunsch Produkte auf molekularer Ebene erstellen) sind innerhalb der Coalition nahezu allgegenwärtig. Dieser Fortschritt erlaubt es dem System, den Lebensunterhalt all seiner Bürger zu gewährleisten. Niemand muss arbeiten, stattdessen kann jeder seinen Interessen und Veranlagungen nachgehen.

Nova Praxis: City

Nova Praxis: City

Diese Gesellschaft verzichtet naheliegenderweise auf Geld als Währung, stattdessen verfügt jeder Systemangehörige über eine persönliche Kennung (CID) und Reputation. Andere bestimmen den „persönlichen Wert“ eines Mitbürgers durch „gefällt mir“ oder „gefällt mir nicht“.  Künstliche Intelligenzen regulieren und sichern diese Bewertungen vor unerwünschten Manipulationen. Eine hohe persönliche Reputation ermöglicht Privilegien und die eigene Stimme fällt bei Abstimmungen mehr ins Gewicht.

Nova Praxis erinnert beim Lesen stark an das Rollenspielglanzstück Paranoia, allerdings ohne dessen zynische Brachialität. Nichtsdestoweniger gilt auch hier offenbar: „The Computer Coalition is your friend. Happyness is mandatory!“.

Verordnete Zufriedenheit und Glückseligkeit sind trügerisch. Ambitionen, soziale Undurchlässigkeit und Fanatismus nagen an der Utopie von innen und außen.
Die Wirtschaft der Nicht-Bürger, Apostate, setzt auf Gold. Sie streben nach Unabhängigkeit und Wohlstand, doch ihnen fehlen die Mittel der Coalition. Die Häuser der Regierung setzen ihrerseits diese „Freien“ immer wieder für ihre Zwecke ein. Das Leben wird nicht gerade leichter, sobald man durch das soziale Netz fällt. Viele waren gar nie Teil dieser Gesellschaft.

Gesetze wie der sogenannte Humanity Preservation Act regulieren unter anderem die Rechte virtueller Individuen (SIMs) und den legitimen Umgang mit transhumanen Technologien, die beispielsweise das Züchten intelligenter Tiere (Uplifting), das Kopieren von Individuen (Forking), das Zusammenführen kopierter Individuen (Merging) oder den Körpertausch (Bio-, Cybersleeving) von Individuen ermöglichen. Selbstverständlich verfolgen die verängstigt kritischen menschlichen Puristen andere Ziele als die progressiven nicht mehr ganz menschlichen Transhumanisten.

Der Hintergrund bietet eine Vielzahl von spielerisch interessanten Ansatzpunkten, arbeitet dabei jedoch keinen davon unmittelbar „spielbar“ aus.

Inhaltlich gesehen verfügt Nova Praxis auf 246 vollfarbigen Seiten über 7 Kapitel:

  1. Overview
    Ein erster Überblick über die Gesellschaft und ihre Machen- und Errungenschaften
  2. The Galaxy
    Ein Führer durch die bewohnten Planeten des Sonnensystems und ferne Welten, persistierende Virtualitäten, Technologie und Kultur
  3. Agendas
    Die Coalition, Apostate (Nicht-Bürger), Transhumanisten, Puristen, Religionen und Häuser
  4. Gameplay
    Die FATE-Regeln des Spiels
  5. Characters
    Charaktererschaffung und Beispielcharaktere
  6. Gear
    Spieltechnische Beschreibung der verfügbaren Ausrüstung
  7. Appendix
    Nichtspielercharaktere (Antagonisten) und Glossar

Die FATE-basierten Spielregeln weisen verschiedene Besonderheiten auf. Es wird unter anderem mit zwei 6-seitigen Würfeln gespielt (1w6 -1w6 = -5 bis +5, wie Starblazer Adventures von Cubicle 7), Spielwerte werden durch Zahlen repräsentiert (Rank 1, 2 usw.) und Ausrüstung eröffnet eine Bandbreite an Modifikatoren.
Der Wesenskern von FATE mit seinen Aspekten und Stunts wird damit ein wenig in Richtung traditioneller Systeme verschoben. Das Nova Praxis RPG bietet zwar Listen für Ausrüstung und Stunts an, doch im Großen und Ganzen bleibt der bekannte eigene Gestaltungsfreiraum gewährleistet.

Das Spiel stellt glücklicherweise (noch?) kein neues Shadowrun oder Cyberpunk 2020 dar. Leider neigen diese beiden Rollenspielvertreter dazu, mit überfrachteten Aufstellungen voller spielhemmender Gadgets und Spezialfähigkeiten aufzuwarten.

Nova Praxis: Example Page (Aspect Alphabet)

Nova Praxis: Example Page (Aspect Alphabet)

Das Aspekt Alphabet (ABCDE) strukturiert dieses Wesensmerkmal aller FATE-Implementierungen überzeugend. Die Charaktere verfügen normalerweise über 5 Aspekte für Ambition, Belief, Connection, Disadvantage und Expertise. Dieser Ansatz erinnert ein wenig an das Rollenspiel Burning Wheel mit seinen Beliefs und Instincts. Die ABCDE-Richtlinie wirkt jedoch wesentlich fokussierter als die normalerweise üblichen 10 oft gestelzt in eine Vorgeschichte eingebetteten Aspekte.

Da es sich beim Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game (BETA Playtest) um eine unvollendete Vorabausgabe handelt, kann noch keine abschließende Meinung zum Spiel oder zur Präsentation gefällt werden. Das nahezu fertige Layout und die hervorragenden Grafiken können gleichwohl als sehr gelungen bezeichnet werden. Auf dieser Ebene bewegt sich das Spiel bereits zwischen Cthulhutech und Eclipse Phase, welches zumindest grafisch überzeugen kann.

THE VERDICT – Fazit, Abschlussbeurteilung und Empfehlungen
Das Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE RPG wirkt ähnlich wie der Science Fiction FATE-Ableger Diaspora sehr aufgeräumt. Der durchdachte dystopische Hintergrund fasziniert, doch taucht gleichzeitig immer wieder die Frage auf, was fange ich jetzt mit dieser abgefahrenen Spielwelt an. Ein ausgearbeitetes Einstiegsabenteuer oder zumindest Szenario-Skizzen würden meines Erachtens den Einstieg spürbar vereinfachen, denn zumindest innerhalb der Coalition entsteht leicht das Bild eines zwar fragmentierten, aber nahezu omnipotenten Überwachungsstaats, welcher wenig Spielraum für „Abenteurer“ lässt, egal, auf welcher Seite des Gesetztes diese sich bewegen. Diese Fragestellung adressieren voraussichtlich der angekündigte Quellenband GM’s Companion und das Abenteuer The Vantage Strain.

Nova Praxis: Duel (Andree Wallin)

Nova Praxis: Duel (Andree Wallin)

Das System bietet sich natürlich besonders für eine Adaption von Eclipse Phase an. Da die im Universum von Warhammer 40.000 angesiedelten Rollenspiele (Dark Heresy, Rogue Trader, etc.) genauso wie auch Cthulhutech spieltechnisch unnötig aufgebläht daherkommen, könnte sich eine Umstellung auf die (FATE-)Regeln von Nova Praxis lohnen.

Der vorliegende BETA Playtest des Nova Praxis RPG stimmt bereits sehr zuversichtlich. Gut möglich, dass mir das Genre beinahe unbegrenzter technischer Möglichkeiten bislang nicht so liegt …
Nach Diaspora und Malmsturm (Fantasy) gibt es nun mit dem Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game (BETA Playtest)) ein weiteres gehaltvolles FATE-Rollenspiel!

THE GOOD – Dinge, die mir gefallen:
+ Der Hintergrund liest sich eigenständig, flüssig, geschlossen und beklemmend
+ Interessante soziale und kulturelle Auswirkungen einer derartig technischen Weltordnung
+ Ambivalenz zwischen Utopie und Dystopie
+ Das Aspekt Alphabet wirkt zugänglicher und schneller als der FATE-typische Storyansatz
+ Gut aufgearbeitetes und verlinktes PDF
+ Vielfalt – Die Charaktere sind keine flachen kriminellen (Shadow-)Runner oder Punks

THE BAD – Dinge, die mir nicht gefallen:
– Kein Einführungsszenario
– Das Fehlen entsprechender Abenteuer- oder Kampagnenskizzen

THE UGLY – Dinge, die ich (noch) nicht klar zuzuordnen kann oder will:
~ Betonung von Modifikatoren durch Ausrüstung
~ Unklare Systemlücken zur Abenteuergestaltung, denn die Coalition wirkt beinahe zu perfekt
~ Keine Raumfahrt/Fahrzeugregeln (aus Platzgründen in das GM’s Companion verschoben)

Quellen:
Void Star-Homepage (Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game (BETA Playtest))
Nova Praxis – A Transhuman Sci-fi FATE Role-Playing Game-Kickstarter

Bildnachweis:
Freigabe durch den Autoren via Email am 02.10.2012

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