“Midgard Campaign Setting” wurde wie angekündigt Anfang Oktober von Open Design veröffentlicht.
Zum besseren Verständnis der nachfolgenden „Besprechung“ zunächst einige einleitende Worte.
Ich bin ein „Patron“ des Projekts. Dies bedeutet, ich habe es im Vorfeld finanziell unterstützt.
Wenn man so will, kaufte ich „die Katze im Sack“. Es folgt entsprechend kein „gekaufter“ oder durch Geschenke subventionierter Eindruck des “Midgard Campaign Setting”.
Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass ich nicht zur „Pathfinder RPG“-Gemeinde gehöre. Ich unterstützte den Hintergrund erst nach Bekanntgabe der Integration des geschätzten Green Ronin-Rollenspiels „Dragon Age“.
Sowohl das „Pathfinder RPG“ als auch das „Pathfinder Campaign Setting“ mit und ohne „The Inner Sea World Guide“ oder besser die ganze Produktreihe betrachte ich weniger wohlwollend. Ich vergleiche die Produkte aus dem Hause Paizo gerne mit der Auswahl dieser Fast Food-Kette mit dem goldenen M: Aggressives Produktmanagement und -Placement, adipös, beliebig, formelhaft, massentauglich, schwerfällig, vorhersehbar und irgendwie fade. Die Eigenleistung bei dieser „Dungeons & Dragons 3.5“-Epigone bleibt sehr überschaubar. Jeden Monat wird die Masse mit Nachdruck erhöht, aber substanziell bleibt wenig zurück.
„Evangelisten“ mögen über diese ketzerische Gesinnung hinweg sehen, doch ich beschäftige mich seit langem („Rise of …“) mit dieser Zeiterscheinung. Sicherlich weniger intensiv, weil spätestens mit dem Erscheinen des uninspirierten Regelwerks klar wurde, wohin die Reise geht und es ohnehin langweilig wurde.
Ich denke zur Positionsbestimmung sind diese Aussagen bedeutsam. Gläubige Anhänger des „Pathfinder“-Katechismus mögen darauf vertrauen, dass es ohnehin ausreichend Eidgenossen gibt, die ihre sicherlich begründete Meinung teilen und sich in Nachsicht und Toleranz üben. Ich vertrete eben die dargelegte andere Sichtweise.
The crowd is always wrong.
– Bertie Charles Forbes / Bernard Baruch (?)
Aufgrund der vermutlich ausgeprägten Unterstützung des ungeliebten „Dungeons & Dragons“-Nachahmers folgte ich meiner Skepsis und investierte gerade genug für die elektronische Ausgabe des “Midgard Campaign Settings” und ich irrte! Den vergangenen Sonntag und einige freie Augenblicke verbrachte ich mit faszinierten Augen in der neuen Welt von Wolfgang Baur, Jeff Grubb, Brandon Hodge, Christina Stiles und Dan Voyce. In der verfügbaren Zeit konnte ich nicht die ganzen 298 Seiten lesen, aber für besagten Ersteindruck reicht es allemal.
Kapitel 1: Willkommen auf „Midgard“, ein erster Überblick über die Spielwelt, ihre Schöpfung, Geschichte, Eigenheiten und Geheimnisse. „Midgard“ ist eine Scheibe umringt von einer riesigen Schlange. Die Elfen verwenden die Macht sogenannter „Ley Lines“, um Schattenstraßen zu erschaffen und zu unterhalten, die weit voneinander entfernte Punkte verbinden. Persönlicher Status bedeutet in einem Höhlenkomplex wenig, aber am Hofe der „Imperatix von Dornig“ kann dieser überlebenswichtig sein. Generationen erleben den Wandel der Welt. Grenzen verschieben sich, Reiche zerfallen. Einige überschaubare Spielergänzungen und -Anpassungen für „Pathfinder“ beinhaltet dieses Kapitel überdies.
Kapitel 2: Helden von „Midgard“, Vorstellung der „spielbaren“ Rassen: Menschen, Dragonkin („Drachenmenschen“), Zwerge, Elfen und Halbelfen, Gearforged („Maschinenmenschen“, „Eberon“-style), Kobolde, Minotauren. Daneben werden die untergeordneten Zentauren, Gnolle, Gnome, Goblins, Halblinge, Tengu („Vogelmenschen“) und Tieflings („Dämonenbrut“) kurz angerissen. Auch dieses Kapitel beinhaltet entsprechendes Regelmaterial (Feats, etc.).
Kapitel 3: „The Crossroads“, die eigentliche Reise beginnt. Sitten und Gebräuche, die freie Stadt „Zobeck“ (inkl. Stadtkarte), markante Plätze, Handelsverbindungen und die verschiedenen Söldnerkompanien stehen zunächst im Mittelpunkt der Betrachtung. Es folgen die „Cloudwall Mountains“, das „Empire of the Ghouls“ und einige weitere Gebiete dieser Region. Die Schilderungen geben Einblick in das Leben der Zwerge in ihren „Ironcrags“-Kantonen, hunderte Ritter gehören dem „Order of the Undying Sun“ an.
Immer wieder blitzen Querverbindungen auf, die Beziehungen der Fraktionen und Herrschaftsgebiete wirken hier und im ganzen Band immer wieder organisch spannungsgeladen, weniger zielgruppenorientiert einkalkuliert. Im Kopfkino entsteht kein willkürlicher Bruchstückhaufen, vielmehr verbinden sich die Puzzleteile zu einem fantastischen Ganzen.
Kapitel 4: „The Rothenian Plain“, die Domäne der geheimnisvollen omnipräsenten „Baba Yaga“ und ihrer Töchter, der Dämonenberge, infernalischer Gnome und räuberischer Zentauerhorden, die einen fordernden Rahmen für Abenteurer bieten. Die nomadischen „Windrunner Elves“ durchstreifen das Land mit ihren „Flugdrachen“.
Es ist unmöglich, alle Details im Rahmen dieser Buchvorstellung zu erfassen. Die Autoren bauen an verschiedenen Stellen recht brauchbare, konkrete Abenteuervorschläge ein. Als Spielleiter fühlt man sich nicht allein gelassen mit den vielfältigen Informationen. Der Bezug zum Spielerlebnis wird stetig erneuert.
Kapitel 5: „The Dragon Empire and the South“, wie der Name andeutet, geht es um ein von Drachen dominiertes Reich und seine Widersacher. Beispielsweise begehren die Minotauren-Kosaren von „Triola“ gegen das Sultanat auf und die Ritter von „Illyria“ mit ihrer „White Goddess“ schützen Karavanen vor Banditenüberfällen. In „Nuria Natal“ erheben sich ehemalige nunmehr untote Herrscher gegen den Expansionsdrang der Unterdrücker. „1001 Nacht“ zwischen Traum und Albtraum.
Kapitel 6: „The Seven Cities“ erinnert an die Konflikte der italienischen Stadtstaaten zur Zeit der Renaissance. Die stetigen Auseinandersetzungen sind ein hervorragender Tummelplatz für Söldnerherzen.
Kapitel 7: „The Wasted West“, das von den üblichen Magierkriegen verwüstete Land. Magie geht hier andere Wege als erwartet. Die Stadt „Bemmea“ zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Straßenführung aus. Darüber hinaus zählen „Dust Goblins“ und zauberhafte „White Knights“ zu den Auffälligkeiten dieser Zaubergefilde.
Kapitel 8: „Domain of the Princes“, ein Überbleibsel der ehemaligen Elfenvorherrschaft. Im Vordergrund steht das höfische Hauen und Stechen, um die Gunst der „Imperatix Regia Moonthorn (usw.)“. Hier kann ein jeder (zugegebenermaßen nicht jeder) eine eigene Baronie gewinnen oder verlieren. Das Spiel mit Gunst und Missgunst endet womöglich genauso tödlich wie die nächste Katakombenbegegnung. Als das kleinste Lehen sei die Taverne „Serpent`s Ward“ erwähnt. Wer höfische Intrigen und Ränke schätzt, wird an der launigen altvorderen Elfenherrscherin und ihrem Hofstaat sicherlich viel Freude finden.
Kapitel 9: „The Northlands“, das der Reich der Nordmänner, -frauen, Riesen und Trolle. In „Jotumheim“ herrschen Frost- und Feuerriesen über magische heiße Quellen. Überhaupt schlagen sich in diesen Breiten einige Werwesen recht erfolgreich durch.
Kapitel 10: Dem göttlichen Pantheon und ihren Dienern steht ebenfalls ein eigener Buchabschnitt zu. Die Götter tragen Masken, es gibt Priester, die nicht nur einem Gott dienen. Die kapitelweise beschriebenen Regionen bieten selbstredend eigene Gottheiten, Kulte, Schreine, Gebote und dergleichen Gepflogenheiten auf.
Die zwei Anhänge: Der erste Anhang bietet Regelergänzungen für das „Dragon Age“-System. Im Wesentlichen handelt es sich um neue Backgrounds, ein paar Spezialisierungen und Zaubersprüche. Der letzte Anhang beinhaltet die üblichen Begnungstabellen bevor die „Open Gaming License“ und der Index diesen Band beschließt.
Machen wir es kurz: Das “Midgard Campaign Setting” rockt! Selbstverständlich handelt es sich nicht um ein neues „Earthdawn“ oder „Age of Treason“, aber die Autoren schaffen es die bekannten „Dungeons & Dragons“- und damit auch „Pathfinder“-Stereotypen ordentlich durchzumischen und aufzupeppen. Sicherlich brauche ich die immer wieder auftauchenden „Pathfinder“-Verweise (Zauber, Waffen, Feats, etc.) nicht, aber ich kann gut darüber hinwegsehen. Die einfallsreiche Phantasmagorie nimmt schier kein Ende. Wie gesagt, es ist schwer, alle Tiefen und Untiefen der wunderbaren Spielwelt so schnell zu erfassen.
Im positiven Sinne erinnert das neue Werk von Wolfgang Baur an eine modernisierte Variante der zauberhaften Gazetteers für das alte „Dungeons & Dragons“.
Wo die originäre „Pathfinder“-Welt „Golarion“ lediglich kalkuliert, austauschbar versagt, brilliert das “Midgard Campaign Setting” meist mit überlegten, homogenen und reizvollen Details, obwohl diese Welt aus dem gleichen „High Fantasy“-Topf schöpft. Das gelingt nicht immer, aber sehr oft.
Der „Dragon Age“-Anhang überzeugt nicht ganz. Es ist jederzeit klar spürbar, dass der regeltechnische Schwerpunkt auf „Pathfinder“ liegt. Nun gut – ökonomisch nachvollziehbar, doch persönlich bedauerlich.
Meine aktuellen Überlegungen gehen gegenwärtig in Richtung „13th Age“. Wolfgang Baur bestätigte mir, dass er bereits mit Rob Heinsoo darüber sprach. Möglicherweise kommt da mehr …
Abschließend noch einige Worte zum Layout, den Grafiken und Karten. Viele der Bilder stammen von Mark Smylie („Artesia“ – unbedingt die Comics lesen!) und sind damit schon ein Kaufgrund alleine, aber auch ansonsten kann sich das Buch sehen lassen.
Nach der für mich „gekauften“ Stargazer’s World-Vorschau des „Iron Kingdoms RPG“ bin ich etwas vorsichtiger geworden und gegenüber ihren Besprechungen ein wenig voreingenommen, doch in diesem Fall stimme ich voll und ganz zu!
Spielsystemunabhängig betrachtet – wer eine gehaltvolle Welt voller „Phantasie & Persönlichkeit“ sucht, investiert zumindest rund 20 $ in die elektronische PDF-Ausgabe des “Midgard Campaign Settings”, besser jedoch in ein vollwertiges Buch (ca. 40 $). Sobald ich es sehe, kann ich mich sicher kaum zurückhalten …
Verzeihung, ich muss jetzt los, mein Fürsprecher verschaffte mir einen Platz in der Entourage der „Imperatix von Dornig“. Sie möchte heute Tennis spielen. Wie aufregend!
Quellen:
“Midgard Campaign Setting“ im Kobold Quartely Shop
“Midgard Campaign Setting“-Ankündigung auf obskures.de
„What about the Midgard Campaign Setting? A review….“-Besprechung auf Stargazer’s World
Bildnachweis: Freigabe durch den Autoren via Email vom 07.10.2012
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